Ein TSCer begibt sich aufs Glatteis – und wie schön das sein kann.
Es ist Anfang März 2006 und ein leicht gefrusteter stellvertretender Wettfahrtleiter hockt missmutig über dem Internet und versucht für die neue Saison Preise zu bestellen. Doch so richtig in Stimmung und Vorfreude auf die neue Saison mag er noch nicht kommen. Ein Blick aus dem Fenster verheißt nichts Gutes: Es ist kalt, ja geradezu frostig, Schnee liegt in den Ecken und schon bei dem Gedanken an eine Schot bekommt man kalte, klamme Finger. „Super“, denkt er, „noch 6 Wochen bis Ostern, hoffentlich ist dann das Eis weg, sonst müssen die 420er Kids wohl auf dem Eis segeln...“ „auf dem Eis segeln..., eissegeln...“ das Wort spukt in seinen Hirnwindungen rum, doch richtig zuordnen kann er es noch nicht.
Da piept der Rechner und reißt den Wettfahrtleiter aus der Lethargie. Eine neue Mail von Nicki: „Los, Kai! Komm raus, wir wollen eissegeln, Hanne und Gisi sind auch da. Was Du mitbringen solltest, sind ....“ Schon wieder dieses Wort, eissegeln, cool, aber was ist das? Kai kommt aus Kiel und Kiel liegt bekanntlich an der Ostsee und die friert eigentlich nie zu, also fehlt ihm jeder Bezug zu diesem Thema. Doch neugierig wie er ist, hält er sich an die Vorgaben und Empfehlungen aus dem Mail und packt alles ein, was auch nur im entferntesten den Begriffen „warm“ und „winddicht“ zuzuordnen ist. Schließlich nimmt er die –überhaupt nicht protestierende- erste Wettfahrtleiterin an die Hand und fährt raus zum TSC.
Dort angekommen wundert er sich, denn von Betriebsamkeit keine Spur. „Die sind draußen...“ wird er in der Messe empfangen. Also gut, hinterher, wer zu spät kommt, der muss bekanntlich laufen. Als die Wettfahrtleitung sich warm eingepackt hatte und zwischen Hasselwerder und Borsig hindurch kommt, bietet sich ein faszinierendes Schauspiel: Man sieht ein Segel, so wie es sich gehört, weiß, dreieckig mit Baum, Segellatten, Nummern drin und Mast vorne weg. Das Segel ist knapp über der durch den Schnee weißen Eisfläche. Zwei Dinge sind jedoch verwunderlich: Das Segel ist zum einen viel zu tief über dem Eis, als da noch ein manierliches Schiff zwischen passen würde und zum anderen ist es viel zu schnell. Segeln war bislang für Kai ein Sport, bei dem man sich diebisch über die Geschwindigkeit einer halbtoten Oma auf ihrem Holland-Fahrrad freut und Jogging-Speed nur mit ausgefeilter Technik und unbezahlbaren Carbon-Elementen erreicht werden kann. Der Begriff „70 km/h“ gehörte daher nicht in sein Wassersport-Vokabular.
Zwei der Segel zischten auf die beiden Neuankömmlinge zu. Beim Näherkommen konnte man erkennen, dass unter dem Segel ein Holzkreuz mit Liegemulde angebracht war, in welcher ziemlich wagemutige und terroristengleich vermummte Piloten lagen. Die Gefährte drehten bei und kamen vor dem staunenden Muschelschubser zum stehen. Breit grinsend stiegen Nicki und Hanne aus. Das sind also Eisschlitten, lernte Kai. An dem Querbalken des Kreuzes, auch Läuferplanke genannt, sind außen zwei messerscharfe Kufen angebracht. Eine dritte Kufe befindet sich am langen Schenkel des Kreuzes, auf welchem die Mulde das Cockpit formt. Diese Kufe kann mittels einer direkten Pinne gelenkt werden. Der Mast steht auf dem Cockpit und wird durch Vorstag und achterliche Wanten auf der Läuferplanke gehalten. Die Stellung des Segels kann über eine Schot leicht geändert werden.
Hanne drückte Kai einen Helm in die Hand. „Nun mal los und setz das Ding auf, du wirst es brauchen...“, munterte er ihn auf. Unsicher und mit leicht feuchten Händen griff Kai die Pinne und das Steuerbordwant. Nach einem ordentlichen Anlauf, bei dem er nur einmal fast auf dem glatten Eis ausgerutscht wäre, sortierte er seine Beine ins recht kleine Cockpit und nahm das Segel dicht. Viel Wind war nicht und so lief der Schlitten mit moderater Fahrt. Kai versuchte die Tipps von Hanne umzusetzen: Kommt der Schlitten gut in Fahrt, so wird er sehr schnell schneller, so dass der scheinbare Wind immer vorlicher einfällt und das Segel immer dichter genommen wird. Schließlich kann man bei dichtem Segel abfallen und damit immer mehr Geschwindigkeit aufnehmen, bis man mit dichtem Segel vor dem Wind fährt. Der beste Kurs ist aber halber Wind, dann kann man schön hin und her fahren. Ok, soweit so gut, Blick ins Segel, alles klar, Bändsel sind gut. Doch der Wind ließ nach und der Schlitten blieb stehen. Was soll’s, erneut anschieben und los. Kai lief los, diesmal war jedoch das Eis glatter und der sterbende Schwan wurde aus dem Opernhaus mal eben in seinen natürlichen Lebensraum verlegt. Oucht! Aber so leicht wird nicht aufgegeben. Also wieder rennen, schieben, einsteigen, Beine sortieren, Schot greifen, dichtnehmen. Und dann kam der Wind und der Schlitten beschleunigte. Die Kufen rumpeln über die leichten Unebenheiten im Eis, man hört wie der Schnee zur Seite staubt und das Luv-Wanten leicht vibriert. Dann nimmt der Wind weiter zu, es pfeift in den Ohren, gut dass der Helm etwas wärmt. Segel dichter, noch mehr Speed, leicht abfallen, noch mehr Speed, mehr Speed, mehr, mehr, mehr Speed! Speed, Speed, was für ein Gefühl. Man gleitet flach über das Eis mit einer irren Geschwindigkeit, ein Blick auf die Luv-Kufe zeigt die ganze Dynamik der Fahrt, man spürt die Balance der Kräfte, merkt wie mit jeder neuen Bö der Schlitten erneut zulegt. Adrenalin steigt auf, Euphorie. Da drückt der Wind erneut und man merkt, wie sich die Luv-Kufe langsam vom Eis hebt. Schnell wird die Schot geschrickt, polternd fällt der Schlitten zurück. Genial!
Doch da ist der See zu Ende, Kai drückt die Pinne nach Lee und leitet die Wende ein, der Schlitten dreht in den Wind, das Segel schlägt und der Baum erklärt dem Helmträger in extrem kurzer Zeit, warum er mit dieser Kopfbekleidung eine wahrlich gute Wahl getroffen hat. Zurück an den Wind, nur die Strömung nicht verlieren, Attacke!
Mitten auf dem See wartet Hanne und sieht, wie sein Schlitten angebraust kommt, in den Wind dreht und - fast bei ihm - zum Stehen kommt. Mit schlotternden Knien und noch leicht benommen von der wilden Fahrt steigt Kai aus. „Und schön? Macht süchtig, wie?“, meint der Alt-Meister. „Jo!“ nickt Kai und das restliche Wochenende reichte einfach nicht, die Sucht zu befriedigen.
Willkommen bei den Schlitten-Junkies! Einen ganz lieben Dank an Nicki, Winne, Hanne und Gisi, für die Überlassung Ihrer Schlitten. Ihr habt mich wirklich abhängig gemacht!
Kai Jürgens